Das Mädchen von nebenan

»Also, das war es dann mit deinem kleinen Experiment«, sagte meine Mutter. »Du hast es versucht, es hat nicht geklappt, und jetzt ziehen wir weiter.« Sie hatte ihre Handwerker-Montur an: den ausgewaschenen türkisfarbenen Rock, einen um den Kopf gebundenen Baumwollschal und eine der Sportblusen, die mein Vater ihr in der Hoffnung gekauft hatte, sie für Golf begeistern zu können. »Fangen wir mit der Küche an«, sagte sie. »Das ist immer das Beste, oder?«

Ich zog mal wieder um. Diesmal wegen der Nachbarn.

»Oh, nein«, sagte meine Mutter. »Die können nichts dafür. Nur schön ehrlich bleiben.« Sie wollte meine Probleme immer bis zur Wurzel zurückverfolgen, was meistens hieß, bis zu mir. Holte ich mir beispielsweise eine Lebensmittelvergiftung, lag das nicht an der Küche. »Du wolltest unbedingt orientalisch essen gehen. Du hast das Lomain bestellt.«

»Lo mein. Es sind zwei Wörter.«

»Aha, Chinesisch kann er jetzt auch noch! Na dann, Charlie Chan, verrate mir doch das Wort für sechs Stunden Dauerkotzen und Durchfall.«

Dabei ärgerte es sie nur, dass ich Geld sparen wollte. Der billige Chinese, das Apartment für fünfundsiebzig Dollar im Monat: »Was du an der einen Ecke abzwackst, musst du anderswo doppelt drauflegen« war einer ihrer Sprüche. Aber wie sollte man nicht sparen, wenn gar kein Geld da war?

»Und an wem liegt es, dass du kein Geld hast? Ich war mir nicht zu fein, einen Vollzeitjob anzunehmen. Ich bin nicht diejenige, die ihr ganzes Geld zum Heimwerkermarkt schleppt.«

»Schon gut. Ich verstehe.«

»Na prima«, sagte sie, und dann begannen wir das Geschirr in Zeitungspapier einzuschlagen.

In meiner Version der Geschichte begann das Problem mit dem Mädchen von nebenan, einer Drittklässlerin, von der meine Mutter behauptete, man habe ihr das Unheil ansehen können. »Du brauchst nur eins und eins zusammenzuzählen«, sagte sie. »Mach einen Schritt zurück. Und denk darüber nach.«

Aber worüber sollte ich nachdenken? Es handelte sich um ein neunjähriges Mädchen.

»Oh, das sind die Schlimmsten«, sagte meine Mutter. »Wie heißt sie noch? Brandi? Also, wenn das nicht billig ist.«

»Entschuldigung«, sagte ich, »aber rede ich nicht mit jemandem, der seine Tochter Tiffany genannt hat?«

»Mir waren die Hände gebunden!«, rief sie. »Die verdammten Griechen hatten mich in der Zange, das weißt du genau.«

»Wie du meinst.«

»Also dieses Mädchen«, fuhr meine Mutter fort – und ich wusste genau, was sie als Nächstes sagen würde. »Was macht ihr Vater?«

Ich erklärte ihr, es gäbe keinen Vater, zumindest würde ich ihn nicht kennen, und wartete, bis sie sich eine neue Zigarette angezündet hatte. »Fassen wir zusammen«, sagte sie. »Ein neunjähriges Mädchen, das nach einem alkoholischen Getränk benannt wurde. Wächst allein bei der Mutter auf, in einer Gegend, in die sich nicht einmal die Polizei wagt. Hast du noch was für mich?« Sie redete, als hätte ich diese Leute aus Lehm geformt, als könnte ich etwas dafür, dass das Mädchen neun Jahre alt war und ihre Mutter keinen Mann finden konnte. »Ich nehme an, die Mutter hat keinen Job, stimmt’s?«

»Sie ist Kellnerin in einer Bar.«

»Na großartig«, sagte meine Mutter. »Erzähl weiter.«

Die Frau arbeitete nachts und ließ ihre Tochter von vier Uhr nachmittags bis zwei oder drei Uhr früh allein. Beide hatten hellblonde, fast weiße Haare, und Augenbrauen und Wimpern waren unsichtbar. Die Mutter zog ihre mit einem Lidstift nach, aber die Tochter schien keine zu besitzen. Ihr Gesicht war wie das Wetter in Regionen ohne erkennbare Jahreszeiten. Gelegentlich verfärbten sich die Ringe unter ihren Augen purpurrot. Man sah sie auch mal mit einer geschwollenen Lippe oder einem Kratzer am Hals, aber ihr Gesicht verriet nichts.

Mit so einem Mädchen musste man Mitleid haben. Kein Vater, keine Augenbrauen und diese Mutter. Unsere Apartments lagen Wand an Wand, und jede Nacht hörte ich die stampfenden Schritte der Frau, wenn sie nach Hause kam. Meistens brachte sie jemanden mit, aber ob nun allein oder in Begleitung, stets fand sie einen Vorwand, ihre Tochter aus dem Bett zu werfen. Mal hatte Brandi einen Donut auf dem Fernseher liegen gelassen, mal hatte sie vergessen, ihr Badewasser abzulassen. Man darf Kindern nicht alles durchgehen lassen, aber man sollte auch mit gutem Beispiel vorangehen. Ich war nie in ihrer Wohnung, aber was man durch die Tür sah, machte einen ziemlich wüsten Eindruck – nicht einfach nur unordentlich oder chaotisch, sondern hoffnungslos, die Behausung einer depressiven Person.

In Anbetracht ihrer häuslichen Situation war es kein Wunder, dass Brandi sich an mich hängte. Eine normale Mutter hätte sich vielleicht Gedanken gemacht, wenn ihre neunjährige Tochter ihre Zeit mit einem sechsundzwanzigjährigen Mann verbrachte, aber Brandis Mutter schien das egal. Für sie war ich eine Art kostenloser Service: Babysitter, Zigarettenautomat oder am besten gleich ein ganzer Supermarkt. Manchmal hörte ich sie durch die Wand sagen: »He, geh zu deinem Freund und frag nach einer Rolle Toilettenpapier.« Oder: »Geh zu deinem Freund und sag ihm, er soll dir ein Sandwich machen.« Wenn Besuch kam und sie ihre Ruhe haben wollte, setzte sie das Mädchen einfach vor die Tür und sagte: »Geh nach nebenan und sieh nach, was dein kleiner Spielkamerad macht.«

Bevor ich eingezogen war, hatte Brandis Mutter sich an das Ehepaar von unten gehalten, aber man sah, dass sich das Verhältnis merklich abgekühlt hatte. Neben den an der Veranda fest geketteten Einkaufswagen hing ein Schild mit der Aufschrift KEIN DURCHGANG, und darunter hatte jemand mit der Hand geschrieben: »Das gilt auch für dich, Brandi!!!«

Auch in der zweiten Etage gab es eine Veranda, von der eine Tür in Brandis und eine in mein Schlafzimmer führte. Technisch gesehen gehörte die Veranda beiden Mietparteien, aber sie war so mit Gerümpel vollgestellt, dass ich sie nur selten benutzte.

»Ich bin nur mal gespannt, wann du deine Slumphase hinter dir hast«, sagte meine Mutter, als sie das Haus zum ersten Mal sah. Sie redete, als sei sie im Luxus groß geworden, dabei war ihre Kindheit noch viel ärmlicher gewesen. Ihre Anzüge, die edlen Brücken in ihrem Gebiss – alles das war reine Erfindung. »Du ziehst nur deshalb in diese runtergekommenen Viertel, damit du dich als was Besseres fühlen kannst«, sagte sie, was immer der Anfang eines Streits war. »Dabei kommt es im Leben darauf an, dass es aufwärts geht. In schwierigen Zeiten meinetwegen auch mal seitwärts, aber welchen Sinn macht es, immer weiter abzusteigen?«

Selbst eben erst in die Mittelschicht aufgestiegen, machte sie sich Sorgen, ihre Kinder könnten zurück in die Welt der Sozialfürsorge und der schlechten Zähne rutschen. Die feine Lebensart war noch nicht in unser Blut übergegangen, oder zumindest sah sie das so. Meine Kleidung aus dem Billigdiscounter trieb sie auf die Palme, genau wie meine gebraucht gekaufte Matratze, die ohne Lattenrost einfach auf dem Holzfußboden lag. »Das ist nicht alternativ«, sagte sie. »Das ist auch nicht natürlich. Das ist schmierig.«

Große Schlafzimmer waren etwas für Leute wie meine Eltern, aber als Künstler hatte ich es lieber spartanisch. Die Armut verlieh meinen dilettantischen Bemühungen den dringend benötigten Anstrich von Authentizität,

und ich stellte mir vor, meine Schuld dadurch zu begleichen, dass ich fast unbemerkt das Leben der Menschen um mich herum verbesserte, nicht auf einen Schlag, sondern eines nach dem anderen, auf die gute alte Art. Es war, glaubte ich, das wenigste, was ich tun konnte.

Als ich meiner Mutter erzählte, dass ich Brandi in meine Wohnung gelassen hatte, seufzte sie laut in den Hörer. »Und ich wette, du hast sie stolz durch die Wohnung geführt, stimmt’s? Mr. Großkotz. Mr. Dicke Lippe.« Das ließ ich ihr nicht so einfach durchgehen. Zwei Tage lang meldete ich mich nicht bei ihr. Dann klingelte das Telefon. »He, Kumpel«, sagte sie. »Du hast keine Ahnung, in was du da hineinschlitterst.«

Was macht man denn, wenn ein verwahrlostes Mädchen vor der Tür steht, sie einfach rausschmeißen?

»Genau«, sagte meine Mutter. »Schmeiß sie verdammt noch mal raus.«

Aber ich konnte nicht. Was meine Mutter als Angeberei bezeichnete, war in meinen Augen nur ein ganz normales Vorzeigen. »Das ist meine Stereoanlage«, sagte ich zu Brandi. »Das ist die elektrische Pfanne, die ich letztes Jahr zu Weihnachten bekommen habe, und das hier habe ich letzten Sommer aus Griechenland mitgebracht.« Ich dachte, ich würde ihr Dinge zeigen, die zu einem ganz alltäglichen Haushalt gehörten und einem etwas bedeuteten, aber sie hörte in allem nur den Besitzanspruch. »Das ist meine Schleife für herausragende Examensleistungen« hieß bei ihr: »Die gehört mir, nicht dir.« Gelegentlich schenkte ich ihr Kleinigkeiten, die sie immer in Ehren halten würde. Eine Postkarte von der Akropolis, vorfrankierte Umschläge, ein Päckchen Papiertücher mit dem Logo von Olympic Airlines. »Wirklich?«, fragte sie. »Für mich?«

Ihr einzig nennenswerter Besitz war eine dreißig Zentimeter hohe Puppe in einer durchsichtigen Plastikschachtel. Es war die Billigversion einer dieser Sammelpuppen in Kostümen aus der ganzen Welt, eine Spanierin in einem Rote-Beete-farbenen Kleid und mit einer ramschigen Mantilla auf dem Kopf. Auf der Rückwand der Schachtel war die Heimat der Puppe aufgedruckt: eine von Pinien gesäumte Straße, die sich einen Hügel hinauf bis zu einer staubigen Stierkampfarena wand. Sie hatte die Puppe von ihrer Großmutter bekommen, die vierzig Jahre alt war und in einem Wohnwagen neben einem Armystützpunkt wohnte.

»Was ist das?«, fragte meine Mutter. »Ein Sketch aus Hee Haw? Wer zum Teufel sind diese Leute?«

»Diese Leute«, sagte ich, »sind meine Nachbarn, und ich möchte nicht, dass du dich über sie lustig machst. Die Großmutter muss das nicht haben, ich muss das nicht haben, und ich bin mir ziemlich sicher, eine Neunjährige muss das auch nicht haben.« Ich erzählte ihr nicht, dass die Großmutter mit Spitznamen Filou hieß und dass sie auf dem Foto, das Brandi mir gezeigt hatte, eine abgeschnittene Jeans und ein Fußkettchen trug.

»Wir reden nicht mehr mit ihr«, hatte Brandi gesagt, als ich ihr das Bild zurückgab. »Sie gehört nicht mehr zu uns, und wir sind froh darüber.« Ihre Stimme klang flach und tonlos, und ich hatte den Eindruck, als hätte ihre Mutter ihr den Satz eingetrichtert. Mit ähnlicher Stimme stellte sie mir ihre Puppe vor. »Die ist nicht zum Spielen. Nur zum Anschauen.«

Wer auch immer diese Regel aufgestellt hatte, hatte sie offenbar mit einer Drohung unterstrichen. Brandi fuhr mit dem Finger die Außenhülle entlang, wie um sich in Versuchung zu bringen, aber nicht ein Mal sah ich sie diese Schachtel öffnen. Gerade so, als würde die Puppe explodieren, wenn man sie aus ihrer natürlichen Umgebung nahm. Ihre Welt war diese Schachtel, und es war tatsächlich eine äußerst seltsame Welt.

»Sieh nur«, sagte Brandi eines Tages, »sie ist auf dem Weg nach Hause, um die Muscheln zu kochen.«

Sie meinte damit die Kastagnetten, die am Handgelenk der Puppe baumelten. Es war ein lustiger, kindlicher Gedanke, und ich hätte es vermutlich lieber dabei belassen sollen, anstatt den Neunmalklugen zu spielen. »Wenn es eine amerikanische Puppe wäre, könnten es Muscheln sein«, sagte ich. »Aber sie ist eine Spanierin, und diese Dinger heißen Kastagnetten.« Ich schrieb das Wort auf einen Zettel. »Kastagnetten, schau im Lexikon nach.«

»Sie ist nicht aus Spanien, sondern aus Fort Bragg.«

»Nun ja, vielleicht wurde sie dort gekauft«, sagte ich. »Aber sie soll eine Spanierin darstellen.«

»Und was soll das nun wieder heißen?« Wegen der fehlenden Augenbrauen war es nicht leicht zu sagen, aber ich glaube, sie war wütend auf mich.

»Es soll gar nichts heißen«, sagte ich. »Es ist so.«

»Du lügst. Den Ort gibt’s überhaupt nicht.«

»Und ob es den gibt«, sagte ich. »Er liegt gleich neben Frankreich.«

»Ach ja. Und was ist das, ein Geschäft?« Ich konnte nicht glauben, dass ich diese Unterhaltung führte. Wie konnte man nicht wissen, dass Spanien ein Land war? Selbst wenn man erst neun war, musste man doch im Fernsehen oder sonst wo davon gehört haben. »Oh, Brandi«, sagte ich. »Wir müssen eine Weltkarte für dich auftreiben.«

Weil es mir anders nicht möglich war, folgten unsere Treffen einem strengen Zeitplan. Ich hatte einen Halbtagsjob auf dem Bau und kam um Punkt 5.30 Uhr nach Hause. Fünf Minuten später klopfte Brandi an meine Tür und blinzelte mich an, bis ich sie hereinließ. Ich beschäftigte mich zu der Zeit gerade mit Schnitzarbeiten und fertigte Holzfiguren, deren Köpfe den Werkzeugen nachempfunden waren, mit denen ich es tagsüber auf dem Bau zu tun hatte: einem Hammer, einem Beil, einer Drahtbürste. Bevor ich mich an die Arbeit machte, legte ich Papier und Buntstifte auf meinen Schreibtisch. »Zeichne deine Puppe«, sagte ich. »Male die Stierkampfarena im Hintergrund. Lerne, dich auszudrücken!« Ich ermunterte sie, ihren Horizont zu erweitern, aber gewöhnlich gab sie schon nach wenigen Minuten mit der Begründung auf, es sei ihr zu anstrengend.

Die meiste Zeit sah sie zu und ließ ihre Augen zwischen meinem Messer und der spanischen Puppe vor ihr auf der Schreibtischplatte hin und her wandern. Sie erzählte mir, wie blöd ihre Lehrer wären, und fragte dann, was ich machen würde, wenn ich eine Million Dollar hätte. Hätte ich zu dem Zeitpunkt meines Lebens eine Million Dollar gehabt, hätte ich sie vermutlich bis auf den letzten Cent für Drogen ausgegeben, aber das verriet ich ihr nicht, weil ich ein gutes Vorbild sein wollte. »Lass mich nachdenken«, sagte ich. »Also, wenn ich das Geld hätte, würde ich es wahrscheinlich weggeben.«

»Klar, sicher doch. Du würdest dich auf die Straße stellen und es unter den Leuten verteilen?«

»Nein, ich würde eine Stiftung gründen und mich dafür einsetzen, dass es einigen Menschen besser geht.« Darüber musste sogar die Puppe lachen.

Als ich sie fragte, was sie mit einer Million Dollar machen würde, zählte Brandi Autos und Kleider und schwere, mit Edelsteinen besetzte Halsketten auf.

»Aber was ist mit den anderen? Willst du nicht auch andere glücklich machen?«

»Nein. Ich will sie neidisch machen.«

»Das meinst du doch nicht im Ernst«, sagte ich.

»Probier’s doch.«

»Ach, Brandi.« Ich machte ihr ein Glas Kakao, und sie setzte ihre Liste bis 6.55 Uhr fort, dem offiziellen Ende unserer Freundschaftsbesuche. Wenn ich nur langsam vorangekommen war und es nicht viele Späne aufzufegen gab, durfte sie auch schon mal zwei Minuten länger bleiben, aber dann war endgültig Schluss.

»Warum muss ich immer auf die Minute gehen?«, fragte sie eines Abends. »Musst du zur Arbeit oder was?«

»Äh, nein, nicht direkt.«

»Warum hast du es dann so eilig?«

Ich hätte es ihr nie sagen sollen. Das Gute im Leben eines Zwangsneurotikers ist, dass man nie zu spät zur Arbeit kommt. Das Schlechte ist, dass man alles andere ebenfalls genau nach der Uhrzeit macht. Das Ausspülen der Kaffeetasse, das Bad in der Wanne, der Gang zum Waschsalon – es gibt nicht das kleinste Geheimnis in den alltäglichen Verrichtungen, keinen Raum für Spontaneität.

Zu der Zeit ging ich jeden Abend ins Pfannkuchenhaus, radelte um punkt sieben von zu Hause los und war Punkt neun wieder zurück. Ich aß dort nie etwas, sondern trank nur Kaffee, immer am gleichen Tisch am gleichen Platz, und las genau eine Stunde lang Bücher aus der Bibliothek. Danach fuhr ich zum Supermarkt, selbst wenn ich gar nichts brauchte, weil mein Zeitplan das so vorsah. Gab es keine Schlangen an der Kasse, nahm ich den langen Weg nach Hause oder umkreiste ein paar Mal den Block, weil ich unmöglich fünf oder zehn Minuten zu früh nach Hause kommen konnte, denn diese Minuten waren nicht als Zeit in der Wohnung vorgesehen.

»Was wäre, wenn du zehn Minuten zu spät kommst?«, fragte Brandi. Meine Mutter stellte mir oft die gleiche Frage – alle taten das. »Glaubst du, die Welt stürzt ein, wenn du erst um vier nach neun durch die Tür gehst?«

Sie sagten es im Scherz, aber meine Antwort war Ja, genau das, glaubte ich, würde passieren. Die Welt würde einstürzen. An Abenden, an denen ein anderer Gast meinen Platz im Pfannkuchenhaus belegte, war ich am Boden zerstört. »Stimmt was nicht?«, fragte die Kellnerin, und ich war nicht einmal in der Lage, überhaupt etwas zu sagen.

Brandi war seit etwas über einen Monat Teil meines Zeitplans, als ich erstmals bemerkte, dass gewisse Dinge in meiner Wohnung fehlten – Radiergummis oder die kleinen Abrechnungsblöcke, die ich aus Griechenland mitgebracht hatte. Als ich in Schränken und Schubladen danach stöberte, entdeckte ich, dass noch andere Dinge fehlten, eine Schachtel Heftzwecken, ein Schlüsselanhänger in der Form einer Erdnuss.

»Ich weiß, wo die Sachen hin sind«, sagte meine Mutter. »Deine kleine Freundin ist über die Terrassentür eingestiegen und hat sie mitgehen lassen, während du im Pfannkuchenhaus warst. Genau das ist passiert, nicht wahr?«

Ich war wütend, dass sie so schnell dahinter gekommen war. Als ich Brandi zur Rede stellte, gab sie sofort alles zu. Es war, als hätte sie nur auf die Gelegenheit zu gestehen gewartet und ihr Geständnis sogar einstudiert. Die gestammelte Entschuldigung, das Flehen um Gnade. Sie hielt meine Hüften umklammert, und nachdem sie endlich losließ, fühlte ich mit der Hand über mein Hemd, das ich feucht von Tränen glaubte. Das war es aber nicht. Ich weiß nicht, was mich zu dem nächsten Schritt veranlasste, das heißt, doch, ich kann es mir zumindest denken. Es hatte alles mit meinem lächerlichen Plan zu tun, ein gutes Beispiel zu geben. »Du weißt, was wir jetzt tun müssen, nicht wahr?« Ich klang entschlossen und gerecht, bis ich an die Folgen dachte und mein Entschluss ins Wanken geriet. »Wir müssen jetzt rüber ... und deiner Mutter sagen, was du getan hast!«

Halb hatte ich gehofft, Brandi würde mir die Sache ausreden, aber sie zuckte nur mit den Schultern.

»Das kann ich mir denken«, sagte meine Mutter. »Ich meine, genauso gut hättest du mit ihr zu ihrer Katze gehen können. Hast du etwa erwartet, die Mutter würde für sie ein Tuch mit den Zehn Geboten sticken? Wach auf, Blödmann, die Frau ist eine Nutte.«

Natürlich hatte sie Recht. Brandis Mutter hörte mir mit vor der Brust verschränkten Armen zu, ein gutes Zeichen, bis mir aufging, dass ihr Zorn sich gegen mich anstatt gegen ihre Tochter richtete. In der hinteren Ecke des Zimmers reinigte sich ein langhaariger Mann mit einer Schere die Fingernägel. Er blickte kurz zu mir herüber und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Fernseher zu.

»Sie hat also einen Radiergummi genommen?«, sagte Brandis Mutter. »Und was soll ich jetzt bitte schön tun? Eins-eins-null anrufen?« Sie sagte das in einem beängstigend gleichgültigen Ton.

»Ich dachte nur, Sie sollten wissen, was passiert ist«, sagte ich.

»Na prima. Jetzt weiß ich’s.«

Ich ging zurück in meine Wohnung und horchte an der Wand im Schlafzimmer. »Wer war das?«, fragte der Typ.

»Ach, nur so ein Arschloch«, sagte Brandis Mutter.

Danach kühlte unser Verhältnis merklich ab. Ich konnte Brandi den Einstieg in mein Apartment verzeihen, aber nicht ihrer Mutter. Nur so ein Arschloch. Ich wollte zu der Bar fahren, wo sie arbeitete, und sie abfackeln. Wenn ich über die Geschichte sprach, hörte ich mich Sätze sagen, die ich offenbar aus dem Radio aufgeschnappt hatte. »Kinder wollen Grenzen«, sagte ich. »Sie brauchen sie.« Für mich klang das sehr vage, aber alle anderen schienen dem zuzustimmen, ganz besonders meine Mutter, die vorschlug, in diesem besonderen Fall könnte eine anderthalb mal drei Meter große Zelle weiterhelfen. Noch gab sie nicht mir allein die Schuld, und es tat gut, mit ihr darüber zu reden und mich am wohligen Feuer ihrer Wut zu wärmen.

Als Brandi das nächste Mal an der Tür klopfte, tat ich so, als sei ich nicht da – ein Trick, auf den niemand hereinfiel. Sie rief meinen Namen, erkannte, was gespielt wurde, und setzte sich zu Hause vor den Fernseher. Ich hatte nicht vor, ewig zu schmollen. Ein paar Wochen Funkstille, so stellte ich mir vor, und wir könnten da weitermachen, wo wir aufgehört hatten. In der Zwischenzeit begegnete ich ihr ein paar Mal vor dem Haus. Sie stand einfach nur da, als warte sie auf jemanden, der sie abholen kam. »Hallo, wie geht’s?«, fragte ich, erntete dafür aber nur ein dünnes, verkniffenes Lächeln, so wie man einen verhassten Menschen anlächelt, der an einem vorbeiläuft und den Hintern voller Schokoladenflecken hat.

In den besseren Tagen unseres Viertels war das Haus, in dem wir wohnten, ein Einfamilienhaus gewesen, und manchmal stellte ich mir vor, wie es früher ausgesehen hatte, mit hohen Räumen und Kronleuchtern, ein imponierender Haushalt, der von einer Schar Mägde und Kutscher in Gang gehalten wurde. Eines Nachmittags brachte ich den Müll nach unten und stieß dabei auf einen Raum, der einmal der Kohlenkeller gewesen war, ein finsteres, halbhohes Loch, in dem jetzt Dachziegel und schimmelige Pappkartons standen. Auf dem Boden lagen durchgebrannte Sicherungen und aufgerollte Elektrokabel, und ganz hinten entdeckte ich einen Stapel mit Dingen, die mir gehörten und deren Fehlen ich noch gar nicht bemerkt hatte – Fotos, zum Beispiel, und Dias von meinen missratenen Grafiken. Die Feuchtigkeit hatte die Hüllen aufgeweicht, und als ich mich rückwärts aus dem Keller zwängte und die Dias gegen das Licht hielt, sah ich, dass die Bilder zerkratzt waren, nicht zufällig, sondern absichtlich mit einer Nadel oder einer Rasierklinge. »Du bis ein Asloch«, stand auf einem. »Lutz mein Swanz.« Die Wörter waren voller Fehler, und die wirre, ungestüme Schrift bildete irre Muster, wie man sie von Geisteskranken kennt, die nicht wissen, wann man aufhören muss. Es war genau der Effekt, nach dem ich mit meiner seichten, nachgemachten Volkskunst gesucht hatte, sodass ich mich nicht nur geschändet fühlte, sondern auch neidisch war. Ich meine, dieses Mädchen war durch und durch authentisch.

Es gab seitenweise Dias mit gehässigen Botschaften. Auch die Fotos waren ruiniert. Auf einem war ich als Kleinkind zu sehen, das Wort »Drecksack« auf die Stirn geritzt. Ein anderes zeigte meine frisch verheiratete Mutter beim Krabben fischen und mit ausgestochenen Augen. Auf dem Stapel auf dem Boden fanden sich auch die vielen kleinen Geschenke, die sie mit vorgespielter Dankbarkeit angenommen hatte, die Umschläge und Postkarten und sogar das Päckchen mit Papiertüchern, alles systematisch zerstört.

Ich packte alles zusammen und lief damit direkt zu Brandis Mutter. Es war zwei Uhr nachmittags, und sie trug eine dieser hüftlangen Jacken, die Judokämpfer anhaben. Für sie war es Vormittag, und sie trank Cola aus einem großen Becherglas.

»Scheiße«, sagte sie. »Hatten wir das nicht schon?«

»Leider nein.« Meine Stimme war höher und zittriger als sonst. »Wir hatten das noch nicht.«

Ich hatte mich immer als Außenseiter in der Nachbarschaft gesehen, als eine Art Missionar unter Wilden, aber mich schnaubend und mit spinnwebenverklebten Haaren vor einer fremden Tür zu sehen, ließ in mir den schrecklichen Verdacht aufkommen, ich könnte genau hierher gehören.

Brandis Mutter schielte auf den schmierigen Packen in meiner Hand und verzog die Stirn, als wollte ich ihr irgendwelchen Kram an der Tür verkaufen. »Wissen Sie, was?«, sagte sie. »Im Moment kann ich nichts gebrauchen. Ach was, ich kann’s überhaupt nicht gebrauchen. Basta. Glauben Sie, ein Kind zu haben ist leicht für mich? Ich habe niemanden, der mir hilft, keinen Ehemann und keine Tagesmutter oder sonst wen, ich bin ganz allein, verstehen Sie?«

Ich versuchte das Gespräch auf das eigentliche Thema zurückzulenken, aber für Brandis Mutter gab es nur ein Thema: Alles drehte sich um sie. »Ich arbeite meine Stunden und schiebe auch noch Schichten für die saublöde Kathy Cornelius, und an meinem einzigen freien Tag soll ich mir von einer Schwuchtel irgendwelchen Scheiß anhören, von dem ich nicht einmal weiß? Sicher nicht. Heute jedenfalls nicht, also suchen Sie sich jemand anderen, bei dem Sie Ihren Müll abladen können.«

Sie knallte mir die Tür vor der Nase zu, und ich stand im Flur und dachte nur: Wer ist Kathy Cornelius? Was ist da gerade passiert?

In den kommenden Tagen spielte ich unsere Unterhaltung wieder und wieder im Kopf durch und dachte mir immer neue bissige und kluge Antworten aus, wie etwa: »Augenblick mal, ich habe mir kein Kind angeschafft.« Oder: »Ist es vielleicht mein Problem, dass Sie die Schichten für die saublöde Kathy Cornelius schieben müssen?«

»Das hätte auch nichts gebracht«, sagte meine Mutter. »Eine Frau wie die sieht sich immer als Opfer. Alle sind gegen sie, komme, was wolle.«

Ich war so wütend und aufgebracht, dass ich vorübergehend zu meinen Eltern ans andere Ende der Stadt zog. Jeden Tag fuhr meine Mutter mich zur festgesetzten Zeit zum Pfannkuchenhaus, aber es war nicht dasselbe. Auf dem Fahrrad konnte ich meinen Gedanken hinterher hängen, doch jetzt musste ich mir auf dem Hinweg wie auf dem Rückweg ihre ständigen Belehrungen anhören. »Was hast du dir davon versprochen, das Mädchen in deine Wohnung zu lassen? Komm mir jetzt nicht mit dem Spruch, du wolltest ihr Leben bereichern, ich habe gerade gegessen.« Ich bekam es an diesem Abend zu hören und am nächsten Morgen gleich noch einmal. »Soll ich dich zurück zu deiner Baracke fahren?«, fragte sie, aber ich war so wütend auf sie, dass ich lieber den Bus nahm.

Ich hatte gedacht, schlimmer könnte es nicht kommen, bis zu jenem Abend. Ich kam gerade aus dem Pfannkuchenhaus zurück und stand auf dem Treppenabsatz vor Brandis Tür, als ich sie »Schwuchtel« flüstern hörte. Sie hielt ihren Mund vor das Schlüsselloch, und ihre Stimme klang dünn und melodisch. Genau so hatte ich mir immer die Stimme einer Motte vorgestellt. »Schwuchtel. Was ist los? Traurig, wie?«

Sie lachte, während ich eilig in meiner Wohnung verschwand, dann rannte sie auf die Veranda und setzte ihr Programm durch die Schlafzimmertür fort: »Kleine Schwuchtel, kleiner Aufschneider. Du hältst dich ja für so schlau, dabei bist du saublöd.«

»Das war’s dann«, sagte meine Mutter. »Du musst da weg.« Kein Wort davon, zur Polizei oder zur Fürsorge zu gehen, nur: »Pack deine Sachen. Sie hat gewonnen.«

»Aber kann ich nicht ...«

»Nichts da«, sagte meine Mutter. »Du hast sie da reingezogen, und jetzt gibt es kein Zurück. Sie braucht nur zur Polizei zu gehen und zu sagen, du hättest sie belästigt. Willst du das? Ein kurzer Anruf, und dein Leben ist ruiniert.«

»Aber ich habe überhaupt nichts gemacht. Vergiss nicht, ich bin schwul.«

»Das wird dich auch nicht retten«, sagte sie. »Wem, meinst du, werden sie wohl glauben, wenn es hart auf hart kommt, einem neunjährigen Mädchen oder einem erwachsenen Mann, der sich daran hochzieht, kleine Monster aus Balsaholz zu schnitzen?«

»Das sind keine kleinen Monster!«, brüllte ich. »Das sind Werkzeugmännchen!«

»Wo ist da der große Unterschied? In den Augen der Richter bist du ein Geistesgestörter mit einem Messer, der im Pfannkuchenhaus rumlungert und eine verdammte Stoppuhr anstarrt. Steck dieses Mädchen in etwas anderes als ein Röhrentop, schick sie in den Zeugenstand und lass sie sich die Augen ausheulen – was glaubst du, was passiert? Und wenn dann noch die Mutter aufläuft und ihre Show abzieht, hast du ein Strafverfahren und eine Zivilklage am Hals.«

»Du siehst zu viel fern.«

»Weniger als die«, sagte sie, »das garantier ich dir. Glaubst du, diese Leute könnten das Geld nicht riechen?«

»Aber ich hab keins.«

»Die sind auch nicht hinter deinem Geld her«, sagte sie, »sondern hinter meinem.«

»Du meinst Dads!« Ich hatte ihr die Sache mit den »kleinen Monstern« nicht verziehen und wollte ihr wehtun, aber es funktionierte nicht.

»Ich meine unser Geld«, sagte sie. »Denk nicht, ich wüsste nicht, wie so was läuft. Ich bin nicht als gemachte Frau mit einer hübschen Handtasche und einem anständigen Paar Schuhe zur Welt gekommen. Mein Gott, was du alles nicht weißt. Mein Gott.«

Meine neue Wohnung lag acht Häuserblocks entfernt, direkt gegenüber der ersten episkopalen Kirche unserer Stadt. Meine Mutter bezahlte die Kaution und die erste Monatsmiete und kam mit ihrem Pritschenwagen, um mir beim Einpacken und beim Transport zu helfen. Als sie mit einer Kiste meiner federleichten Balsaholzskulpturen über den Flur ging, die Haare unter einem bunten Tuch versteckt, fragte ich mich, was Brandi, die uns garantiert durchs Schlüsselloch beobachtete, von ihr denken mochte. Was würde sie in ihr sehen? Das Wort Mutter kam nicht infrage, da ich nicht glaube, dass sie dessen Bedeutung wirklich verstand. Eine Person, die einen auf seinem Weg behütet und einem in der Not zu Hilfe kommt – wie würde sie so etwas nennen? Eine Königin? Eine Stütze? Eine Lehrerin?

Ich hörte ein Geräusch hinter der Tür und dann eine leise Mottenstimme. »Miststück«, flüsterte Brandi.

Ich huschte zurück in die Wohnung, aber meine Mutter blieb nicht einmal stehen. »Mädchen«, sagte sie, »du solltest mich erst einmal richtig kennen lernen.«